In Brüssel wird in diesen Tagen über eines der umstrittensten digitalen Vorhaben Europas entschieden: die sogenannte „Chat-Kontrolle“, offiziell die Verordnung zur Prävention und Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern (Child Sexual Abuse Regulation, CSA). Der Entwurf der EU-Kommission sieht vor, dass Anbieter von Messengern, E-Mail-Diensten und sozialen Netzwerken verpflichtet werden, Inhalte auf kinderpornografisches Material oder verdächtige Kommunikation zu durchsuchen.
Befürworter sprechen von einem Meilenstein für den Kinderschutz – Kritiker von einem Angriff auf die digitale Privatsphäre aller EU-Bürger.
Hintergrund und aktueller Stand
Die Initiative wurde im Mai 2022 von der EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, vorgestellt. Ziel war es, einheitliche EU-Regeln zu schaffen, um sogenanntes „Child Sexual Abuse Material“ (CSAM) aufzuspüren und zu melden. Bereits 2023 begannen intensive Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission, die sich bis heute hinziehen.
Am 14. Oktober 2025 steht nun im EU-Rat eine entscheidende Abstimmung an. Während einige Länder wie Frankreich und Irland die Verordnung unterstützen, zeigen sich unter anderem Deutschland, Belgien und die Niederlande zuletzt skeptisch. Sie fordern Nachbesserungen beim Schutz verschlüsselter Kommunikation. Auch IT-Unternehmen wie Signal, Threema, Proton und Meta (WhatsApp) lehnen den Entwurf strikt ab – sie sehen darin eine Bedrohung für Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und Grundrechte.
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Wie die Chat-Kontrolle funktionieren soll
Laut Gesetzesentwurf sollen Plattformen und Messenger verpflichtet werden, automatisch Inhalte zu scannen, die Nutzer versenden oder hochladen. Dabei sollen KI-Systeme oder Hash-Vergleiche bekannte Missbrauchsdarstellungen erkennen und verdächtige Funde an eine EU-Meldebehörde weiterleiten. Da verschlüsselte Dienste wie Signal oder WhatsApp keine Nachrichteninhalte kennen, wäre das nur über sogenanntes Client-Side-Scanning möglich. Die Nachrichten würden auf dem Endgerät des Nutzers überprüft, bevor sie verschlüsselt werden. Damit würde im Prinzip jede Nachricht, jedes Bild oder jede Sprachnachricht lokal durchsucht – unabhängig davon, ob ein Verdacht besteht oder nicht.
Die Befürworter argumentieren, dass nur so Täter in geschlossenen Gruppen entdeckt werden können. Kritiker halten dagegen: Diese Methode bricht das Prinzip der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, weil die Kontrolle bereits vor dem Schutz greift.
Argumente der Befürworter
Die EU-Kommission betont, dass es sich nicht um eine allgemeine Massenüberwachung handele, sondern um eine gezielte Maßnahme gegen Kindesmissbrauch. Millionen von Inhalten würden jährlich im Netz geteilt, und viele Täter nutzten verschlüsselte Dienste, um sich zu vernetzen. Befürworter verweisen auf bestehende Missstände: Laut Europol steigt die Zahl der CSAM-Fälle jährlich zweistellig. Plattformen wie Meta oder Google melden pro Jahr Millionen Funde.
Nationale Polizeibehörden fordern EU-weit einheitliche Befugnisse, um Beweise zu sichern. Sie sehen in der Verordnung ein Instrument, um Ermittlungen zu vereinfachen und internationale Rechtslücken zu schließen. Außerdem betonen sie, dass die Verordnung Transparenz- und Kontrollmechanismen enthalte. Anbieter müssten ihre Scan-Technologien zertifizieren lassen, Fehlalarme melden und Missbrauchsrisiken minimieren.
Risiken und Kritik
Die Liste der Kritikpunkte ist lang – und reicht von technischer Unmöglichkeit bis zu grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein Hauptkritikpunkt ist der Angriff auf die Verschlüsselung: Ende-zu-Ende-Verschlüsselung lebt davon, dass niemand außer Sender und Empfänger die Inhalte lesen kann. Client-Side-Scanning hebelt dieses Prinzip aus, indem Nachrichten bereits vor der Verschlüsselung analysiert werden. Damit würde das Gerät selbst zur Überwachungsinstanz – ein „Trojaner per Gesetz“, wie Kritiker sagen.
Weitere Kritik betrifft die Fehleranfälligkeit der eingesetzten Algorithmen. Schon in Testumgebungen führten harmlose Familienfotos oder Schulchats zu Fehlalarmen, mit der Folge falscher Verdächtigungen und potenziell massiver Eingriffe in die Privatsphäre Unschuldiger. Datenschutzorganisationen warnen zudem vor einem Dammbruch-Effekt: Ist eine Infrastruktur zum Durchleuchten privater Chats erst einmal geschaffen, könnte sie später für andere Zwecke genutzt werden – etwa zur Terrorismusbekämpfung, im Urheberrecht oder zur politischen Überwachung.
Auch Sicherheitsbedenken werden laut: Je mehr Stellen Zugriff auf Kommunikationsprozesse erhalten, desto größer das Risiko von Sicherheitslücken. Ein gesetzlich verankerter Scan-Mechanismus könnte von Hackern oder autoritären Regimen missbraucht werden. Schließlich warnen Experten vor einem sogenannten „Chilling Effect“: Wenn Nutzer wissen, dass ihre privaten Nachrichten technisch analysiert werden, ändert sich ihr Verhalten. Menschen schreiben weniger offen, meiden vertrauliche Themen oder weichen auf nicht-europäische Dienste aus.
Chancen und mögliche positive Effekte
Trotz der massiven Kritik bietet die Chat-Kontrolle – in einer stark modifizierten, rechtsstaatlich kontrollierten Form – auch theoretische Chancen. Automatische Meldungen könnten Ermittlern helfen, internationale Tätergruppen schneller zu identifizieren. Die Verordnung zwingt Anbieter, Schutzmechanismen einzubauen und Missbrauchsmeldungen systematisch zu behandeln. Eine EU-weite Meldebehörde könnte grenzüberschreitende Ermittlungen koordinieren und Daten zentral auswerten. Zusätzlich würden Anbieter verpflichtet, offenzulegen, wie sie Inhalte erkennen und welche Daten sie weitergeben – das könnte langfristig zu mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht führen. Allerdings setzen diese Vorteile voraus, dass technische und rechtliche Safeguards zuverlässig funktionieren – was viele Fachleute bezweifeln.
Fazit
Die Chat-Kontrolle steht exemplarisch für den Grundkonflikt zwischen Sicherheit und Freiheit in der digitalen Welt. Der Schutz von Kindern vor Missbrauch ist ein legitimes und wichtiges Ziel – doch der aktuelle Entwurf greift tief in die Grundrechte der gesamten Bevölkerung ein. Während die EU-Kommission betont, man wolle keine Massenüberwachung schaffen, sehen Datenschützer, IT-Sicherheitsforscher und Bürgerrechtsorganisationen genau das Gegenteil: ein gefährliches Präzedenzsystem, das verschlüsselte Kommunikation grundsätzlich infrage stellt.
Ob sich in der Abstimmung Mitte Oktober eine Mehrheit für oder gegen den Entwurf findet, ist offen. Sicher ist nur: Die Entscheidung wird weit über Europa hinaus als Signal gewertet werden – ob die EU künftig als Hüterin der Privatsphäre oder als Pionierin der präventiven Überwachung gilt.


