Die Zahl krimineller Vorfälle in deutschen Shopping-Centern und Fachmarktzentren ist laut einem neuen internen Lagebild des German Council of Shopping Places (GCSP) im Jahr 2024 deutlich gestiegen. Insgesamt wurden laut Bericht, über den WELT berichtet, 18.276 Delikte dokumentiert – ein Zuwachs von satten 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Interessenverband, der rund 90 Prozent der großflächigen Handelsimmobilien in Deutschland vertritt, warnt eindringlich vor wachsender Aggressivität und steigenden Sicherheitskosten.
Umfrage mit breiter Datenbasis
Das GCSP-Lagebild stützt sich auf Rückmeldungen aus 1.105 Objekten, darunter 248 Shopping-Center, 99 Fachmarktzentren sowie 758 großflächige Handelsimmobilien mit Lebensmittelhändlern und weiteren Mietern. Es beschreibt eine „erhöhte Gefahrenlage“ mit mehr Wiederholungstätern und einem wachsenden Anteil an Tätern mit Migrationshintergrund. In 75 Prozent der Fälle sei dies 2024 laut GCSP der Fall gewesen – eine leichte Steigerung gegenüber dem Vorjahr.
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Gewalt, Drogen, Bedrohungen
Besonders auffällig ist die Zunahme von Gewalt- und Bedrohungsszenarien. In 2.905 Fällen kamen Messer oder Werkzeuge zum Einsatz – elf Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der dokumentierten Fälle von Drogenkonsum stieg um 45 Prozent auf 1.389. Verletzungen von Sicherheitspersonal, Mitarbeitern oder Besuchern wurden in 235 Fällen gemeldet – ein Plus von 25 Prozent. Auch Bombendrohungen (46 Fälle) und Geldautomatensprengungen (11 Fälle) nahmen zu. Weitere Bedrohungskategorien wie Vandalismus (945), Bandenkriminalität (611), sexuelle Belästigung (105) oder Bedrohungen von Besuchern (458) wurden ebenfalls aufgeführt.
Sicherheitskosten steigen deutlich
Die verschärfte Lage führt auch zu finanziellen Folgen: Die Ausgaben für Sicherheitsmaßnahmen stiegen laut GCSP um rund 21 Prozent auf 41 Millionen Euro. Diese Summe umfasst auch Tarifanpassungen, verdeutlicht aber den gestiegenen Aufwand zum Schutz von Besuchern und Personal.
„Stadtbild“ und Sicherheit – eine neue politische Bruchlinie
GCSP-Generalsekretär Ingmar Behrens betont trotz der gestiegenen Zahlen, dass die Vorfälle im Verhältnis zur Zahl der Besucher in Shopping-Centern weiterhin niedrig seien. „Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Messerangriffs zu werden, ist geringer als ein Lottogewinn“, sagte er der Welt. Dennoch sei jede Tat eine zu viel. Die Lage erfordere mehr öffentliche Aufmerksamkeit und müsse Teil der Debatte um die Entwicklung des Stadtbildes sein. Behrens verweist dabei ausdrücklich auf die durch Kanzler Friedrich Merz angestoßene Diskussion um Sicherheit, Migration und das Erscheinungsbild deutscher Innenstädte.
Der CDU-Vorsitzende hatte vor einer „Verwahrlosung deutscher Innenstädte“ gewarnt. Seine Äußerung löste eine Welle an Reaktionen aus – von scharfer Kritik bis zu offener Zustimmung. Unabhängig von der Wortwahl hat die Debatte einen Nerv getroffen: Viele Kommunen berichten von einem wachsenden Unsicherheitsgefühl, insbesondere in verkehrsberuhigten Zonen, Bahnhofsvierteln und Einkaufsstraßen. Häufig stehen diese Beobachtungen im Spannungsfeld zwischen sozialer Realität, Wahrnehmung und politischer Deutung.
Der Handel als sicherer Ort – oder Spiegel gesellschaftlicher Probleme?
Während die Politik diskutiert, verweisen Handelsvertreter auf ihre eigene Verantwortung. Der Handelsverband Deutschland (HDE) reagierte Ende Oktober mit einem Appell an die Politik, die Innenstädte zu stärken. „Die sicherste Innenstadt ist eine Innenstadt ohne Leerstände und mit einem vitalen Einzelhandel. Die Geschäfte des Handels sind sichere Orte“, betonte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth.
Verödete Stadtzentren hingegen erzeugten „dunkle Angsträume“. Um diesen Trend zu stoppen, fordert der Verband steuerliche Anreize für Investitionen, eine Senkung der Stromsteuer auch für den Handel – was der Branche rund 700 Millionen Euro jährlich sparen würde – sowie ein konsequenteres Vorgehen gegen unfaire Konkurrenz aus Fernost wie Temu und Shein.
Die Argumentation ist klar: Wirtschaftliche Vitalität schafft Öffentlichkeit – und wo Leben ist, sinkt das Risiko von Kriminalität. Doch dieser Zusammenhang greift womöglich zu kurz. Denn die Realität vieler Händler zeigt inzwischen ein umgekehrtes Bild.
Vertauschte Ursache und Wirkung?
Zwar stimmt es, dass belebte Innenstädte Sicherheit fördern. Doch viele Leerstände entstehen erst infolge einer veränderten Wahrnehmung von Unsicherheit und des Verlusts urbaner Aufenthaltsqualität. Wenn Menschen bestimmte Orte meiden, weil sie als unsicher gelten, sinkt die Kundenfrequenz – und damit die wirtschaftliche Basis für den stationären Handel. Der Leerstand ist in vielen Fällen nicht die Ursache, sondern das Symptom einer tieferliegenden Entwicklung: einer sozialen und sicherheitspolitischen Erosion, die vor allem dort sichtbar wird, wo öffentlicher Raum nicht mehr funktioniert.
Hinzu kommt: Während große Shopping-Center in der Regel über eigenes Sicherheitspersonal und moderne Überwachungssysteme verfügen, fehlt diese Infrastruktur in den klassischen Einkaufsstraßen. Dort sind Händler zunehmend auf sich gestellt – und reagieren mit verkürzten Öffnungszeiten oder dem Rückzug. Die Folge: weniger Licht, weniger Bewegung, mehr Unsicherheit. Ein Kreislauf, den rein ökonomische Maßnahmen kaum durchbrechen können.
Frequenzmessung: Mehr Bewegung, weniger Qualität
Ein Blick auf aktuelle Frequenzmessungen in Innenstädten unterstreicht dieses Paradoxon. Laut verschiedenen City-Monitoring-Systemen haben sich die Besucherzahlen in vielen Stadtzentren seit 2023 nur leicht verändert – die Passantenfrequenzen liegen vielerorts wieder auf Vor-Corona-Niveau oder nur geringfügig darunter. Doch Händler und Stadtplaner berichten, dass sich die Zusammensetzung der Besuchergruppen deutlich gewandelt hat.
Anstelle kaufkräftiger Kunden oder Familien dominieren zunehmend Transit- und Aufenthaltsgruppen, die zwar Bewegung erzeugen, aber kaum Kaufkraft einbringen. Häufig handelt es sich um jüngere Menschen, Touristen, Lieferfahrer oder auch marginalisierte Gruppen. Die Folge: Auf den Zählsensoren entsteht der Eindruck von Belebung – in der Realität aber nimmt die wirtschaftliche Qualität dieser Frequenz ab.
Für den Einzelhandel bedeutet das: Frequenz allein ist kein verlässlicher Indikator mehr für ökonomische Vitalität oder gefühlte Sicherheit. Entscheidend ist, wer sich in der Innenstadt aufhält und wer nicht – und warum. Genau diese qualitative Verschiebung dürfte künftig darüber entscheiden, ob Stadtzentren Orte des Handels bleiben oder zu reinen Transitflächen verkommen.
Ladendiebstahl: Milliardenverluste und kaum sichtbare Einsicht
Diebstähle im stationären Einzelhandel haben sich in den letzten Jahren zu einer gravierenden Belastung entwickelt. Laut Angaben des EHI Retail Institute lag der wirtschaftliche Schaden durch Ladendiebstahl im Jahr 2024 bei nahezu drei Milliarden Euro, ein Anstieg von rund 20 Prozent gegenüber 2022. Parallel dazu zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik für 2024 einen leichten Rückgang der angezeigten Ladendiebstähle: Der einfache Ladendiebstahl sank im Vergleich zu 2023 um etwa 4,9 Prozent, der schwere Ladendiebstahl um etwa 6,8 Prozent.
Allerdings weisen Handel und Forschung darauf hin, dass nur ein Bruchteil aller Fälle angezeigt wird – nach Schätzungen bleiben bis zu 98 Prozent der Delikte im Dunkelfeld.
Besonders problematisch: Ein Großteil der Schäden wird durch organisierte Banden verursacht, denen die Zerstörung der wirtschaftlichen Grundlage vieler Händler zugeschrieben wird. Die Entwicklung unterstreicht, dass Ladendiebstahl zunehmend nicht nur als Bagatelle gilt, sondern als strukturelles Sicherheits- und Standortproblem gesehen werden muss.
Sicherheit als Standortpolitik
Das GCSP-Lagebild und die Debatte um Merz’ Aussagen zeigen, dass sich die Frage nach urbaner Sicherheit längst zur wirtschaftspolitischen Kernfrage entwickelt hat. Händler, Investoren und Kommunen stehen gleichermaßen unter Druck, Lösungen zu finden, die soziale Prävention, Stadtplanung und Handelspolitik zusammendenken.
Denn Sicherheit entsteht nicht allein durch mehr Polizei oder Kameras, sondern durch funktionierende öffentliche Räume. Und diese Räume leben von einem Handel, der sich nicht in Rückzugsgefechte gedrängt sieht.
Fazit: Eine Debatte zwischen Emotion und Struktur
Die Diskussion über Migration und Kriminalität in Innenstädten hat das Potenzial, den gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenso zu spalten wie zu klären. Entscheidend ist, dass sie auf Fakten und nicht auf Pauschalisierungen beruht. Die Zahlen des GCSP zeigen ein reales Problem, doch sie verweisen auch auf strukturelle Ursachen, die weit über Herkunft oder Kultur hinausgehen.
Der Handel bleibt dabei nicht nur Opfer, sondern Mitgestalter. Wer urbane Sicherheit will, muss wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität zusammendenken – und anerkennen, dass beides sich gegenseitig bedingt. Eine vitale Innenstadt entsteht nicht allein durch Investitionen, sondern auch durch Vertrauen. Und dieses Vertrauen muss – wie die Sicherheit – Tag für Tag neu erarbeitet werden.


