Europa will beim globalen Wettlauf um künstliche Intelligenz nicht länger zusehen, sondern mitgestalten – mit zwei neuen Strategien treibt die EU-Kommission nun aktiv den Einsatz von KI in Industrie, öffentlichem Sektor und Wissenschaft voran. Das erklärte Ziel: Europa soll zu einem echten „KI-Kontinent“ werden und den Wandel nicht nur begleiten, sondern prägen.
Zwei Säulen einer ambitionierten KI-Politik
Die „Apply AI Strategy“ konzentriert sich auf die Integration von KI in Schlüsselbranchen – von der Automobilindustrie über das Gesundheitswesen bis hin zur Agrarwirtschaft. Parallel dazu soll die „AI in Science Strategy“ die Grundlagenforschung stärken und die wissenschaftliche Anwendung von KI massiv ausbauen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte: „KI an erste Stelle zu setzen bedeutet, Sicherheit und Fortschritt gleichermaßen zu priorisieren. Wir wollen KI nicht nur nutzen – wir wollen sie verantwortungsvoll gestalten.“
Gewinnen in der Plattform-Ökonomie
Milliardeninvestitionen für industrielle Anwendung
Für die Umsetzung mobilisiert die Kommission rund 1 Milliarde Euro. Diese Mittel fließen unter anderem in KI-gestützte Screening-Zentren im Gesundheitswesen, in die Entwicklung sektorenspezifischer Frontier-Modelle und in Maßnahmen zur Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen. Die Strategie verfolgt einen klaren sektoralen Ansatz und orientiert sich an den jeweiligen Anforderungen von Industrie und öffentlichem Dienst. Darüber hinaus werden zusätzliche Initiativen in Sektoren wie Tourismus, Finanzen und E-Commerce angestrebt.
Ein zentraler Hebel ist der Ausbau der Recheninfrastruktur. In ganz Europa sollen bis zu 13 KI-Fabriken entstehen, die als Hochleistungszentren für Rechenleistung dienen. Der Investitionswille ist da: Laut Kommission liegt das bisherige Interesse aus der Wirtschaft bei über 230 Milliarden Euro. Insbesondere sogenannte Gigafactories sollen Deutschland und anderen Industrienationen strategische Vorteile verschaffen.
Digitale Innovationszentren und neue Allianzen
Mit der „Apply AI Alliance“ will die Kommission einen branchenübergreifenden Austausch etablieren. Unternehmen, Sozialpartner, öffentliche Institutionen und Wissenschaftler sollen gemeinsam an Lösungen arbeiten. Gleichzeitig wird eine KI-Beobachtungsstelle geschaffen, die technologische Entwicklungen und Markttrends analysiert. Für den öffentlichen Sektor stellt die EU künftig ein praktisches Toolset in Form eines „AI Toolkits“ bereit – mit Open-Source-Werkzeugen für eine unkomplizierte Implementierung von KI-Lösungen in Behörden.
Zudem wird ein Service Desk für das KI-Gesetz eingerichtet, der Behörden und Unternehmen beim rechtssicheren Einsatz von KI unterstützt. Ein automatisierter „Compliance Checker“ hilft, regulatorische Anforderungen schnell zu prüfen.
RAISE – Europas Antwort auf das KI-CERN
Im wissenschaftlichen Bereich soll das Projekt „RAISE“ (Resource for AI Science in Europe) als virtuelle Plattform sämtliche KI-Ressourcen bündeln: Forschung, Talente, Daten und Rechenleistung. Ziel ist es, nicht nur die Anwendung von KI in wissenschaftlichen Disziplinen zu fördern, sondern auch die Entwicklung sicherer, vertrauenswürdiger KI zu ermöglichen. Die EU spricht dabei von einer Doppelstrategie: „Science for AI“ und „AI in Science“.
Die Gemeinsame Forschungsstelle der EU wird die Strategie mit Studien, Evaluierungen und einem eigenen Bericht zu den Auswirkungen von KI auf Wissenschaft und Forschung begleiten.
Bitkom: Richtiger Schritt, aber noch nicht genug
Der Digitalverband Bitkom begrüßte die Strategien grundsätzlich, sieht aber auch Nachbesserungsbedarf. „Die Apply AI Strategy leitet einen wichtigen Bewusstseinswandel ein“, sagte Bitkom-Geschäftsführerin Susanne Dehmel. Besonders begrüßt sie die geplanten Maßnahmen zur Stärkung der Infrastruktur, etwa durch das AI-on-Demand-Portal und die European Data Spaces. Doch im Vergleich zu Ländern wie den USA oder China, wo Investitionen in KI-Infrastruktur im Umfang von 500 Milliarden Euro geplant sind, sei Europas Ambition noch ausbaufähig.
Wichtig sei nun, die Programme zügig und praxisnah umzusetzen. Dehmel betonte: „Gerade der Mittelstand ist Europas große Stärke – ihn beim KI-Einsatz gezielt zu unterstützen, ist entscheidend.“
Nächste Schritte und internationale Vernetzung
Ende Oktober will die Kommission eine Strategie für die europäische Datenunion vorstellen – als Grundlage für die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Daten. Am 3. und 4. November findet in Kopenhagen zudem der KI-in-Science-Gipfel statt, bei dem politische Entscheidungsträger, Industrie und Wissenschaft aufeinandertreffen. Geplant sind dort weitere Pilotprojekte im Rahmen von RAISE sowie ein gezielter Aufruf an private Investoren zur Beteiligung an europäischen KI-Initiativen.