Die Frage, wie Menschen künstliche Intelligenz in ihren Arbeitsalltag integrieren, gewinnt angesichts wachsender Verbreitung zunehmend an Relevanz. Der US-amerikanische KI-Entwickler Anthropic hat mit dem Tool „Anthropic Interviewer“ nun erstmals eine skalierbare Methode vorgestellt, um qualitative Interviews automatisiert zu führen. In einer ersten Testphase wurden 1.250 Fachkräfte aus verschiedenen Berufsgruppen zu ihren Erfahrungen mit KI befragt – mit teils überraschenden Ergebnissen.
Zwischen Optimismus und Vorbehalten
Die generelle Stimmung gegenüber KI in der Arbeitspraxis ist überwiegend positiv: In der allgemeinen Erwerbsbevölkerung gaben 86 % der Befragten an, dass KI ihnen Zeit spare. 65 % sind mit ihrer KI-Nutzung zufrieden. Dennoch äußerten 55 % auch Sorgen über mögliche Auswirkungen auf ihre berufliche Zukunft. Besonders interessant: Nur 8 % dieser besorgten Personen zeigten keinerlei Strategie zum Umgang mit ihrer Unsicherheit.
Ein häufiges Thema war der Wunsch, zentrale Aufgaben mit persönlichem Wert nicht an KI abzugeben. Routinetätigkeiten hingegen werden gerne ausgelagert. So möchte etwa ein Pastor mehr Zeit für die Gemeindearbeit gewinnen, indem er administrative Aufgaben durch KI erledigen lässt. Gleichzeitig betonen viele Befragte die Bedeutung klarer Grenzen, um nicht zu abhängig von der Technologie zu werden.
Gewinnen in der Plattform-Ökonomie
Kreative und Wissenschaftler: Zwischen Effizienz und Identitätsfragen
In den befragten Kreativberufen zeigte sich ein ambivalentes Verhältnis zur KI. Zwar berichteten 97 % von Effizienzgewinnen, etwa durch automatisierte Bildbearbeitung oder Textgenerierung. Doch gleichzeitig ist die Angst vor wirtschaftlicher Verdrängung und dem Verlust kreativer Authentizität groß. Viele wollen die Kontrolle über den kreativen Prozess behalten – auch wenn das in der Praxis nicht immer gelingt.
Wissenschaftler wiederum sehen großes Potenzial in der Unterstützung durch KI, etwa bei Literaturrecherche oder Code-Überprüfung. Für zentrale Aufgaben wie Hypothesenbildung oder experimentelle Planung fehlt ihnen jedoch noch das nötige Vertrauen. 91 % wünschten sich künftig eine KI, die als echter Forschungspartner fungiert – etwa durch Vorschläge für neue Zusammenhänge oder kreative Impulse im wissenschaftlichen Prozess.
Unterschiede zwischen Selbstbild und realer Nutzung
Ein bemerkenswerter Befund war die Diskrepanz zwischen wahrgenommener und tatsächlicher Nutzung: Während sich 65 % der Befragten als Nutzer augmentativer KI-Anwendungen (unterstützend, nicht ersetzend) sehen, zeigen Nutzungsdaten aus früheren Analysen von Anthropic ein Gleichgewicht zwischen Augmentation und Automatisierung. Die Forscher vermuten, dass Nutzer ihre Zusammenarbeit mit KI oft als partnerschaftlicher empfinden, als sie in der Praxis ist.
Forschung in großem Maßstab: Ein neues Werkzeug für KI-Soziologie
Mit dem Interviewtool betritt Anthropic Neuland in der sozialwissenschaftlichen Erforschung von KI-Nutzung. Die automatisierte Gesprächsführung erlaubt es, qualitative Studien in bislang unerreichter Größenordnung umzusetzen. Die Ergebnisse fließen künftig in Produktentwicklung, Modelltraining und politische Positionierungen des Unternehmens ein.
Ein öffentlich zugänglicher Datensatz der Interviews soll darüber hinaus Wissenschaftlern und politischen Entscheidern neue Impulse geben. Parallel arbeitet Anthropic bereits mit Lehrkräften, Kulturinstitutionen und Forschern zusammen, um branchenspezifische Anforderungen an KI-Tools besser zu verstehen.


